Manche von euch haben meine feuerrote Harley-Davidson WL von 1946 vielleicht schon einmal bei einer Tour oder einer Ausstellung der AMAL gesehen. Hier ist nun eine kleine Geschichte, die erklärt, warum eine Operation am offenen Herzen der alten Dame notwendig wurde.
Ich hatte die Maschine im Winter 2021 nach einer doch recht langen Suche gekauft: Es musste nämlich eine echte zivile Maschine (WL) sein und keine umgebaute, sogenannte „zivilisierte“ Militärmaschine (WLA oder WLC). Außerdem mussten für mich die Motornummern und die Rahmennummern übereinstimmen, und nach Möglichkeit sollten auch noch die originale Gabel und die originalen Tanks (ja, Tanks – links ist nämlich der Benzin- und rechts der Ölbehälter) vorhanden sein.
Nachdem die passende Maschine dann in der Garage stand, wurde sie zerlegt, um sie optisch auf Vordermann zu bringen und meinen Vorstellungen anzupassen. Sie wurde im originalen und (fast) periodenkorrekten Harley-Davidson „Flight Red“ neu lackiert (psst, nicht weitersagen: „Race Red“ von aktuellen Ford Mustangs ist exakt der gleiche Rotton und macht Lackier- und Ausbesserungsarbeiten deutlich einfacher). Sie bekam 16-Zoll-Räder, einen komplett neuen Kabelbaum und vieles mehr. Der Motor und das Getriebe funktionierten einwandfrei und blieben, nach Montage eines anderen Vergasers sowie einer Kontrolle, unverändert.
Während anderthalb Saisons und ca. 5.500 km lief meine WL auch einwandfrei und machte keine Probleme. Aber dann, etwa zur Mitte der Saison 2023, begannen die Schwierigkeiten, die mich einige meiner ohnehin schon spärlichen Haare kosteten.
Sie begann plötzlich während der Fahrt mit starken Zündaussetzern. Ein klares Muster war nicht zu erkennen: Manchmal lief sie problemlos, manchmal begannen die Probleme nach 5 km, manchmal erst nach 120 km. Manchmal funktionierte sie mit einer neuen Zündkerze wieder, manchmal aber auch nicht. In den folgenden Monaten probierte ich mehrere neue Zündspulen aus, kontrollierte den Generator, überprüfte den gesamten Kabelbaum und kontrollierte immer wieder die Zündung selbst. Aber nein, mal lief die Maschine, mal nicht. Als in diesem Jahr dann bei einem Ölwechsel Metallteile aus dem Kurbelgehäuse fielen, die dort definitiv nicht hingehörten, war klar: Der Motor muss raus!
Als der Motor dann ausgebaut und zerlegt war, wurde mir die Sinnhaftigkeit des Sprichwortes ‚mit einem lachenden und einem weinenden Auge‘ bewusst. Mein lachendes Auge erkannte, dass das sogenannte „Bottom End“ des Motors – also die beiden Gehäusehälften, die Kurbelwelle, die Nockenwellen, die Stößel usw. – in einem sehr ordentlichen Zustand waren. Abgesehen von ein paar neuen Buchsen, zwei Reparaturen an den Befestigungspunkten des Gehäuses und einigen weiteren Kleinigkeiten würde das nicht allzu viel Arbeit oder Geld kosten.
Bei dem sogenannten „Top End“, also Zylindern, Kolben, Ventilen und Federn, nahm dann jedoch das weinende Auge überhand. Mein Zündproblem, das mich die letzten 1.000 km immer wieder zur Verzweiflung getrieben hatte, stellte sich als gebrochene Ventilfeder heraus. Da die Ventilfedern beim Flathead in einer Hülse laufen, konnte die gebrochene Feder nicht allzu weit von ihrer vertikalen Achse abweichen. Dadurch stand sie manchmal zufällig richtig und funktionierte mehr oder weniger, während sie manchmal verdreht war und gar nichts ging. Ärgerlich! Aber die böse Überraschung kam bei den Zylindern und Kolben.
Die Harley-Davidson Flathead-Zylinder (45 cui) können bis zu neun Übermaße aufgebohrt werden. Das heißt, es gibt Kolben bis zur 9. Übergröße Kolben mit passenden Kolbenringen, die direkt von Harley geliefert wurden. Es ist also genügend Material an den Zylindern vorhanden, aber alles, was über diese Übermaße hinausgeht, gilt als riskant. Als ich die Übermaße mit der Bohrung meiner Zylinder verglich, stellte ich fest, dass meine Zylinder bei… der 15. Übergröße waren! Bei entsprechendem Lichteinfall hätte man vermutlich durch die Zylinderwände Zeitung lesen können.
Dieses ganze Desaster wurde mit zwei Originalkolben einer Indian Sport Scout, ca. 1940, gekrönt. Und als ob das noch nicht genug wäre, hatte sich bei einem der beiden Kolben irgendwann ein Kolbenbolzen-Clip gelöst, der zwei hübsche Krater in den ohnehin schon papierdünnen Zylinderwänden hinterlassen hatte. Fazit: Der gesamte „Top End“ muss neu gemacht werden! Oh je, oh je...
Man muss wissen, dass von der Harley Flathead (45 cui) insgesamt fast 100.000 Stück gebaut wurden (zivile und militärische), und es wurden Ersatzteile für weitere ca. 30.000 Maschinen produziert. Da die Maschine auch für die US-Armee im Zweiten Weltkrieg gebaut wurde und die Amerikaner dazu neigen, ihr gesamtes Material nach einem Krieg einfach vor Ort zurückzulassen, ist die Ersatzteilsituation hier in Europa auch heute noch recht gut (es ist die einzige Harley, bei der der Ersatzteilmarkt bei uns besser ist als in den USA). Es gibt sogar 80 Jahre später noch viele NOS-Teile (New Old Stock) in Originalverpackung, und vieles wird in mal besserer, mal schlechterer Qualität reproduziert.
Vieles, aber leider nicht alles. Und was gehört nicht dazu? Genau: Zylinder!
Nach einigem Hin und Her gelang es mir schließlich, einen der letzten NOS-Vorderzylinder zu ergattern, sowie einen Nachbauzylinder für hinten (auch diese sind nahezu nicht mehr zu finden). In den nächsten Tagen wird noch eine große Bestellung weiterer Teile eintreffen. Wenn der Motor schon komplett zerlegt ist, soll er danach auch in einem Top-Zustand wieder eingebaut werden. Daher werden auch Teile erneuert, die noch nicht am Limit sind. Irgendwie muss man sein Geld ja unter die Leute bringen...
Sobald es mit dem Motor weitergeht, könnt ihr meinen Leidensweg auf unserer AMAL-Website weiterverfolgen...